(Folge 8) M. A. Kuzmin - Florus und der Räuber
Jedesmal, wenn Ämilius Florus die gegenüberliegende, aus demselben rotglänzenden Stein gebaute Mauer erreichte, kehrte er ungestüm sein bleich gewordenes Gesicht um, und seine schallenden Schritte, die der gewöhnlichen Leichtigkeit seines Ganges so unähnlich waren, machten den greisen Sklaven und den stummen Knaben, die auf der Erde sassen, zusammenfahren, und sie blickten erschreckt auf, wenn die Ränder des blauen Gewandes ihres Herrn sie bei seinen hastigen Wendungen streiften.
Als wäre er vom Hin- und Herlaufen ermüdet, schickte er den Alten hinaus, mit geschlossenen Augen den Kopf schüttelnd, um zu zeigen, dass er die Wirtschaftsberichte nicht zu hören wünsche. Der Knabe, der zu dem jetzt sitzenden Florus herangekrochen war, küsste ihm die Knie und versuchte, einen Blick von ihm aufzufangen. Florus pfiff dem grossen zottigen Hunde und sie traten alle drei in den Garten hinaus, wo sie wieder hintereinander auf und ab zu gehen begannen. Zuerst ging schweigend und mit grossen Schritten der Herr, dicht hinter ihm trippelte der stumme Knabe, den grossen Kopf schüttelnd, schritt der Hund als Letzter in der Reihe. Durch den zweiten Spaziergang beruhigt, betrat Florus das Haus und schrieb den bereits angefangenen Brief weiter:
„. . . Dir wird es eine Kinderei scheinen, was ich mich anschicke Dir zu sagen, aber diese Kleinigkeit raubt mir die Ruhe und das Gleichgewicht meiner Seele, deren jeder bedarf, dem die Würde des Menschen etwas gilt. Dieser Tage traf ich einen Mann aus dem Volke, den ich vorher niemals gesehen hatte, aber von so bekanntem Aussehen, das ich — teilte ich die Lehre der Brahmanen von der Seelenwanderung — geglaubt haben würde, wir seien einander schon in einem früheren Leben begegnet. Und noch sonderbarer ist es, dass der Gedanke an diese Begegnung, der in meinem Kopfe stark geworden ist, wie Bohnen aufquellen, wenn man sie zur Nacht in Wasser legt, mir keine Ruhe lässt, und ich bin bereit hinzugehen und selbst diesen Menschen zu suchen, weil ich mich nicht entschliessen kann, mich jemand anzuvertrauen und mich selbst meiner Schwäche schäme. Vielleicht hängt das alles vom ungenügenden Zustande meiner Gesundheit ab: häufige Schwindelanfälle, Schlaflosigkeit, Niedergeschlagenheit und grundlose Angstgefühle gestatten nicht, sie befriedigend zu nennen. Der Mann, den ich traf, hatte ungewöhnlich helle graue Augen, gebräunte Hautfarbe und dunkles Haar; an Wuchs und Körperbau gleicht er mir. Calpurnia meinen Gruss, küsse die Kinder; die Amphoren habe ich schon längst in Dein Stadthaus geschickt. Nochmals vale.“
II.
Der Arzt schwieg eine Weile und fragte:
„Mit welch einem Zustande hat der deinige am meisten Ähnlichkeit, Herr?“
„Ich kenne den Zustand eines Menschen nicht, der ins Gefängnis geworfen worden ist, aber ich glaube, dass der meinige diesem am nächsten kommt. Seit einiger Zeit fühle ich mich in meinen Bewegungen behindert, die Willensfreiheit selbst scheint beschränkt; ich will gehen und kann nicht, will atmen und ersticke, mich beherrscht eine dunkle Unruhe und unbestimmte Angst.“
Florus schwieg, als sei er ermüdet, und erbleichend, begann er wieder:
„Vielleicht wirkt auf meine Vorstellung vom Gefängnis ein Traum, den ich vor Ausbruch meiner Krankheit hatte.“
„Du hattest einen Traum?“
„Ja, einen so deutlichen, handgreiflichen! Und sonderbar: es ist, als hätte er bis jetzt nicht aufgehört, und wenn ich wünschte (davon bin ich überzeugt), könnte ich ihn ununterbrochen weiter träumen und dich, mein Freund, für ein Gespenst halten.“
„Wird es dich aufregen, wenn du ihn mir erzählst?“
„Nein, nein!“ wiederholte Ämilius hastig, die Schweisstropfen fortwischend, die an seiner Stirn hervorgetreten waren. Und er begann, als mache es ihm Mühe, sich zu erinnern, abgerissen zu sprechen, und bald hob sich seine Stimme zu lautem Schreien, bald sank sie zu raunendem Flüstern herab:
„Sage es niemand, was du hören wirst . . . schwöre es . . . . vielleicht ist es gerade die Wahrheit. Ich weiss nicht . . . . ich habe gemordet — denke nichts . . . es war — dort, im Traume. Ich floh, lange irrte ich umher, ich nährte mich von Früchten (ich entsinne mich, es waren wilde Kirschen), stahl Brot, Milch geradewegs aus den Eutern der Kühe auf dem Felde. Ach, die Sonne brannte und betäubend war der Dunst der Sümpfe! Als ich durch das Hafentor ging, wurde ich, unter dem Verdacht ein Messer gestohlen zu haben, ergriffen. Ein hochgewachsener rothaariger Händler, (ja, „Titus“ nannten sie ihn), hielt mich fest: ich fühlte mich schwach und war fassungslos; ein rothaariges Frauenzimmer lachte laut, ein rotgelber Hund winselte zu meinen Füssen, auf dem Pflaster lag eine Nelke, gepanzerte Soldaten gingen vorüber . . . man schlug mich . . . die Sonne sengte. Dann Finsternis und stickige Kühle. O Kühle der Gärten, der klaren Quellen, des Bergwindes, wo bist du?“ . . .
Und Florus schwieg entkräftet und liess sein Haupt sinken. Der Arzt sagte: „Schlafe ein“, und ging hinaus zum Schaffner über den Kranken zu sprechen. Der stumme Knabe lauschte mit gierig geöffneten Augen und offenstehendem Munde. Gegen Abend rief Florus die alte Amme. Vor ihm kauernd sprach die Alte, die ihre Märchen und Kindheitserinnerungen erschöpft hatte, ohne Zusammenhang von dem, was ihre alten Augen gesehen und ihre taub werdenden Ohren gehört hatten. Sich in ihren Mantel wickelnd, zischelte sie mit zahnlosem Munde:
„Söhnchen, vor ein paar Tagen sah ich am Hafentor einen Mörder: er hielt das Messer in der Hand, aber sein Anblick war nicht fürchterlich; hell, ach, so hell waren seine Augen, dunkles Haar, wie ein Knabe sah er aus. Mein Schwager, der Händler Titus, hat ihn festgehalten . . .“
Florus schrie auf und packte sie am Arm:
„Hör auf! Hör auf! Geh! Titus? sagst du Titus, Hexe?“
Der Knabe stürzte, vom Geschrei erschreckt, ins Gemach.
III.
Viele Tage dauerte noch dieser Kampf, und der Kranke wiederholte, mehr als einmal: „Ich kann nicht mehr: es geht über meine Kraft!“ und das heimlich an ihm nagende Leiden hatte sein früher blasses Gesicht erdfahl gemacht. Dunkle Schatten umrandeten seine Augen und die Stimme kam wie aus ausgedörrter Kehle. Er schlief keine Nacht und quälte den stummen Knaben mit seiner Angst.
Eines Morgens erhob er sich vor Sonnenaufgang und verlangte Hut und Mantel, als mache er sich auf den Weg. Der Alte unterdrückte jede Frage, und bloss seinen Blick beantwortend, befahl Florus:
„Du wirst mir folgen!“
Der Gang des Herrn war wieder frei und leicht; auf den eingefallenen Wangen röteten sich wieder Rosen. Sie entfernten sich durch Strassen und über Plätze weit von Hause, ohne dass der Sklave den Zweck des Ganges zu erraten vermochte. Schliesslich, wie sie haltmachten, als hätten sie das Ziel erreicht, entschloss er sich zu fragen:
„Du wirst hier eintreten, Herr?“
„Ja.“
Die Stimme des Florus klang sorglos. Sie betraten das Gefängnis. Da man Florus als reichen und vornehmen Mann kannte, so gestattete man ihm, ohne Schwierigkeiten, wenn auch gegen Entgelt, sich zu überzeugen, ob unter den Eingekerkerten sich nicht sein, angeblich vor kurzem entlaufener Sklave befände. Schnell und aufmerksam durcheilte er das Gefängnis bis hinab zum letzten Kellerverlies. Er suchte mit einem Blicke, als hätten seine Augen das alles schon früher gesehen. Atemlos fragte er:
„Sind alle Sträflinge hier? Es gibt keine mehr?“
„Mehr sind keine da, Herr. Gestern ist einer entflohen . . .“
„Entflohen? Sein Name?“
„Malchus.“
„Malchus?“ wiederholte er, aufhorchend. „Helle Augen, gebräunte Haut, schwarzhaarig?“ fragte Florus erfreut.
„Ja, du hast recht, Herr,“ nickte der Gefängniswärter mit dem Kopfe.
Als Ämilius Florus aus dem Gefängnis trat, war er heiter, wie nie zuvor, er plapperte wie ein Kind, seine Augen, die die dunklen Schatten nicht verloren hatten, glänzten.
„Mein alter Mummus, sieh nur: war jemals der Himmel so sanft, so lieblich die Bäume und Blumen?! Wir wollen zu Fuss auf mein Landgut gehen: wilde Kirschen werd ich essen und Milch trinken geradewegs aus den Eutern der Kühe. Sanft werden die Tage verrinnen! Du wirst mir ein Mädchen verschaffen, das nach Gras, Ziegen und etwas auch nach Lauch riecht, den stummen Lukas nehmen wir nicht mit aufs Land. Ach, alter Mummus, bin ich nicht gesund, wie jemals? Die Wolken — als sei es Frühling, als sei es Frühling!“
IV.
Morgens machte Florus sich freudig auf den Weg, das heimliche Haus seines Landgutes verlassend, um auf schmalen und breiten Wegen ausgedehnte Spaziergänge zu machen. Gorgo, die der Alte seinem Herrn zugeführt hatte, war still, schweigsam, gehorsam und schlicht, wie ein Kälbchen; ihren gebräunten Körper gab sie leicht und in Reinheit hin; wenn sie zu Hause wartete, sang sie alte Lieder.
Lukas, der Stumme, der selbst aufs Gut hergelaufen war, begleitete seinen Herrn überallhin, Freude in den traurigen Augen und im müden Knabengesicht. Schweigend folgte er, Florus keinen Augenblick in seiner plötzlich wiedergekehrten Heiterkeit verlassend. Immer nur über Bergpfade schweifen, im blumenbunten Grase ruhen, auf dem Rücken liegend, ohne Aufhören zur blauen Feste hinaufstarren, einfache ländliche Lieder singen und den Stummen die Doppelflöte dazu blasen lassen! Die weissen, grellweissen, blendend weissen Wolken standen still über Hain und Fluss; sie warteten. Milchspuren auf den Lippen, unrasiert, mit rotem Munde küsste Florus Gorgo, das städtische Schmachten vergessend, auf den Lauchgeruch nicht achtend. Der stumme Lukas weinte im Winkel. Tag reihte sich an Tag, wie im Kranze sich eine Blume an die andere flicht.
Eines Abends war es, als werde Florus mitten im sorglosen Spiel von tiefer Niedergeschlagenheit befallen oder von einem unsichtbaren Feinde ergriffen. Mit plötzlich heiser gewordener Stimme sagte er: „Was ist das? Woher kommt diese Finsternis? Dieser Kerker?“ Und er legte sich auf das niedrige Lager, kehrte sich zur Wand und seufzte schweigend. Leise kam Gorgo herein und umarmte ihn, der sie nicht ansah. Florus wehrte ihr und sagte:
„Wer bist du? Ich kenne dich nicht! Nicht jetzt. Gib acht, das knarrende Schloss wird den schlafenden Wächter wecken.“
Schweigend trat Gorgo zurück und der Stumme schlich sich, wie ein Hund, wieder herein und küsste die herabhängende Hand des Florus.
V.
Es war eine schwüle Nacht für die Diener, die vor dem Schlafzimmer des Florus schlummerten. Nur Lukas war, stumm und ergeben, bei seinem Herrn geblieben. Lange konnte man nur die Schritte des auf und ab gehenden Ämilius hören. Gegen Morgen umfing die Diener der leise Schlaf vor Sonnenaufgang. Plötzlich wurde die Luft von einem Schrei zerschnitten, der Menschenstimme nicht ähnlich war. Es war, als hätte ein Unirdisches, das Echo weckend, gerufen: „Der Tod!“
Die zögernden Diener, die an die Tür gepocht hatten, wurden vom stummen Knaben ins Gemach hineingelassen, dessen Gesicht vom Schreck bis zur Unkenntlichkeit entstellt war. „Der Tod! Der Tod!“ wiederholte er mit wilder, Worte auszusprechen nicht gewohnter Stimme. Die Diener stürzten sich, ohne über die Laute des Stummen zu staunen, zum Lager, auf dem der Herr mit zurückgefallenem Kopfe und schwarz gewordenem Gesicht bewegungslos dalag. Lukas kehrte zum Lager zurück, als habe er eben erst diesen Platz verlassen, und brach lautlos zusammen.
Mit der Schreckensbotschaft eilte man schnell zum Arzt und zum Schaffner.
Der Stumme hörte nicht auf zu wiederholen: „Der Tod! Der Tod!“ als habe er die Sprache nur für diese Worte allein wiedererhalten.
Florus lag mit zurückgefallenem, schwarz gewordenem Gesicht da, eine Hand hing leblos herunter. Der Arzt hatte den Körper untersucht, den unzweifelhaften Tod festgestellt und wies staunend den Schaffner auf einen schmalen, schwarzen, blutunterlaufenen Striemen, der am Halse des Verstorbenen aufgequollen war und sich durch nichts erklären liess. Der einzige Zeuge von Ämilius Florus’ Tode, der stumme Lukas, sprach, das göttliche Stammeln des wunderbaren Schreckes überwindend, der ihm die Gabe der Rede zurückgegeben:
„Der Tod! Der Tod! Wieder in Banden . . . er geht, geht: wirft sich, wie ermüdet, aufs Lager . . . kein Wort sprach er zu mir; gegen Morgen begann er unruhig zu röcheln; ich stürzte zu ihm, er schlug, röchelnd, die Augen zu mir auf. O Götter! Der Morgen leuchtete rot durchs Fenster. Florus lag, schwarz geworden, regungslos da . . .“
Man hatte Lukas über Trauer und Besorgungen für die Leichenfeier vergessen.
Kaum begann es am nächsten Morgen hell zu werden, so erschien ein barfüssiger, zerlumpter, von niemand gekannter Greis, und bat, Florus zu sehen. Der Schaffner, der glaubte, irgendeine Aufklärung über den Tod seines Herrn zu erhalten, trat zu ihm hinaus. Der Ankömmling schien hartnäckig und schlicht. Ringsum heulten sich scharende Hunde.
„Du wusstest nicht, dass mein Herr, Ämilius Florus, gestorben ist?“
„Nein. Es ist gleichgültig. Ich erfüllte, was man mir befohlen.“
„Wer befahl dir?“
„Malchus.“
„Wer ist es?“
„Jetzt ein Hingegangener.“
„Er ist gestorben?“
„Gestern morgen wurde er gehängt.“
„Kannte er meinen Herrn?“
„Nein. Er entbietet ihm, dem Unbekannten, Gruss und sendet ihm die Todesbotschaft. Bei euch werden Stumme reden.“
„Sie reden schon,“ sagte Lukas, der herangekommen war und die schmutzige Hand des Greises küsste.
„Willst du nicht den Verstorbenen sehen?“
„Wozu? Er hat sich im Gesicht sehr verändert?“
„Sehr.“
„Jenen hat die Schlinge auch verändert. Er hat ein grosses Zeichen am Halse . . .“
„Hast du viel zu sagen?“
„Nein, ich gehe fort.“
„Ich gehe mit dir!“ sagte Lukas freundlich zum Unbekannten.
Die Sonne hatte den Hof schon rosig gefärbt und die gemieteten Klageweiber liessen, ihre abgemagerten Brüste entblössend, durchdringendes Wehgeschrei zum Himmel aufsteigen.